Meistens Plan BLaura Kalauz zeigt „Punto de Fuga – Fluchtpunkt“ in Zürich

Der Eintritt ist frei. Wir dürfen alle umsonst rein, in den kargen Saal des Theaterhauses Gessnerallee in Zürich. Und wir dürfen nach eineinhalb Stunden auch wieder raus und gehen, wohin wir wollen. Das unterscheidet uns von den Frauen, die wir in diesen 90 Minuten kennenlernen, in denen die Künstlerin Laura Kalauz von ihrer Arbeit in einem argentinischen Frauengefängnis berichtet. „Punto de Fuga – Fluchtpunkt“ ist eine Momentaufnahme, performative Installation genannt. Kalauz erläutert die Eckpunkte ihrer Recherche, bedient zwei Computer. Ihr gegenüber sind drei Frauen mit Übersetzungen beschäftigt: Englisch, Deutsch, Spanisch – Wort, Klang, Schrift. Das Publikum blickt auf zwei Leinwände, lauscht den vertrauten Skype-Geräuschen und befindet sich im nächsten Moment im Gespräch mit vier Häftlingen.

Deren Biografien standen während der gemeinsamen Arbeit in Buenos Aires nicht im Vordergrund – auch wenn sie als Frage oder Möglichkeit an diesem Abend mitschwingen. Kalauz interessierte sich stattdessen für die Institution Gefängnis, die ein Innen und ein Außen schafft, sowie verschiedene Ausschluss- und Überschreitungskanäle. Sie erarbeitete mit den Inhaftierten Interventionen im öffentlichen Raum, also Draußen. Für diese habe es allerdings immer einen Plan A und einen Plan B gegeben, erklärt sie. Plan A wäre das wirkliche Übertreten der Gefängnisgrenzen gewesen. Für den Fall, dass die dafür benötigten Sondergenehmigung nicht erteilt wurde – also fast immer – mussten andere Mittel und Wege gefunden werden. Von diesen Ausweichplänen gibt der Abend in der Gessnerallee einen Eindruck.

Der Versuch ist um eine Telefonverbindung herum angeordnet. Den Gefangenen steht ein Telefon zu Verfügung. Sie können Anrufe tätigen und empfangen – allerdings muss man, auch in unserem Fall, damit rechnen abgehört zu werden. Als die Verbindung Zürich-Buenos Aires steht, fragt eine gewisse Maria das Publikum unvermittelt, ob wir sie für einen guten oder für einen schlechten Menschen halten. Carolina, eine andere Gesprächspartnerin, trägt ein Gedicht vor, in dem ihre Geschichte anklingt. Wir dürfen sie etwas fragen. Das fühlt sich unbehaglich an.

Vero sagt, dass sie Geburtstag hat und äußert eine besondere Bitte. Sie wünscht sich ein Geburtstagslied: „I want somebody to love me“. Dazu würde sie, wenn sie draußen wäre, mit ihrem Freund tanzen, sagt sie. Im Publikum findet sich ein Paar, das das Tanzen für sie übernimmt. Vero gibt genaue Anweisungen, das Lied wird gespielt und während die zwei Zürcher sich zur Musik wiegen, lernt man eine berührende Lektion über das Drinnen und das Draußen, die dazwischen liegende Distanz und ihre Überwindung auf Umwegen.

Auch Agnieszcas Geschichte handelt von diesen Umwegen. Sie hat an ihren Liebsten in Polen geschrieben. Er hat ihre Zeilen erhalten, ins Spanische übersetzt und an Laura Kalauz geschickt, die sie nun auf die Leinwand beamen lässt und vorliest. Für die deutschen Zuhörer wird der Text übersetzt. Es liegen tausende Kilometer zwischen uns, Agnieszca und Piotr in Polen, drei Sprachen und die Kontrollinstanzen, die der Text durchlaufen hat. Neben den Gefängniszensoren hat Piotr entschieden, was er weiterleiten und Kalauz, was sie vortragen wird. Der Einblick in diese Liebesgeschichte produziert eine Ahnung vom Ausschluss, von der Distanz und der Sehnsucht.

Aber es braucht nicht solche großen Gesten. Kalauz fragt zum Beispiel Maria, die in wenigen Monaten entlassen wird und erst während ihrer Haft ein wenig Englisch gelernt hat: „What is freedom for you?“ Es knistert in der Leitung. Was bleibt ist das Hier und Jetzt und die Sehnsucht nach dem Anderen. Und dann verlässt man das Theater mit dem Vorsatz mal auf Kalauz‘ Blog reinzuschauen und vielleicht eine Nachricht an die Künstlerin und ihre eingesperrten Mitarbeiterinnen zu hinterlassen.

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