„Handeln! Handeln! Handeln!“Perücken-Politik auf Berliner Bühnen

Andcompany& Co. (Quelle und Bildrechte: HAU/Doro Tuch)

Es ist natürlich Zufall, wenn man in einer Woche in zwei Theatervorstellungen sitzt und in beiden fällt auf der Bühne einer Schauspielerin die voluminös gepuderte Perücke vom Kopf. Auf den ersten Blick verbindet die beiden Abende nicht viel. Im Maxim Gorki Theater gibt es „Der Geizige“ nach Molière, neu getextet vom Dadaisten unter den Antikapitalisten, PeterLicht. Den Komödien-Klassiker im neuen Gewand. „Wir befinden uns am Anfang des dritten Jahrtausends.“ – Und alle so: Hä? Im Hebbel am Ufer laden die Post-Anarchisten von Andcompany&Co. in den deutschen Tempel des Ruhms, wo sie hinter zwei Vorhängen Goethe mit Goebbels, Baader mit Bleibtreu und Jux mit Dollerei verquirlen. Es funktioniert: „Pandämonium Germanicum: Lenz im Loop“.

Beiden Abenden fehlt es weder an Wort- noch Bildgewalt und trotzdem bleibt jeweils der Perückenmoment hängen. Ein kurzes Aufmerken und die Frage: Absicht oder Fauxpas? Und weil man weiß, dass im Theater nur wenig dem Zufall überlassen wird, kommt man zu dem Schluss, dass weder Hilke Altefrohne im „Geizigen“ noch Alexander Karschnia von Lenz&Co. die Haarpracht aus Versehen abhanden gekommen ist.

Wenn erstere sich als Elise in Zuckungen ergeht, bis der barocke Kopfputz über den Bühnenrand fliegt, dann ist das das äußerste Zugeständnis an die Kontingenz in Jan Bosses akribischer Inszenierung. Hier geht auch dem Letzten auf, dass Hilke nicht Elise und Repräsentationstheater von gestern ist. Es ist die sichtbare Geste für all jene, die den flapsigen Kommentar Peter Kurths als Harpagon („Heute läuft’s aber irgendwie nicht“) und den schmerzhaften Knall überhört haben, mit dem Robert Kuchenbuch (und doch nicht Cléanthe!) auf dem Hintern gelandet ist. Bühne frei für die Differenz zwischen Schauspieler und Rolle, die Distanz, die zwischen das Gespielte und sich selbst zu bringen die hohe Kunst des zeitgenössischen Schauspielers ist. Ganz im Gegensatz zu früheren Bühnenidealen – und zum Film – wo das psychologische Einfühlen in die Rolle, ja, das Verschmelzen mit ihr, oberste Prämisse ist. Statt Läuterung durch Mitgefühl erfährt das Publikum in dem Moment, in dem der Darsteller aus seiner Rolle tritt, das Miteinander im Theatersaal. Die Bedeutung vermittelt sich nicht mehr ausschließlich über Figuren und dramatische Handlung. Sie entsteht vielmehr als eine Bewegung zwischen den Anwesenden im Hier und Jetzt der theatralen Situation. Das gibt den Akteuren ihren Handlungsspielraum zurück und dem Zuschauer seine Verantwortung. „Ästhetik des Performativen“ nennt es die Berliner Theaterwissenschaftlerin Erika Fischer-Lichte. Doch ein anderer Terminus hat sich durchgesetzt: „Postdramatisches Theater“, nach Hans-Thies Lehmanns gleichnamigem Buch von 1999.

Inzwischen haben sich längst auch die großen Bühnen diese Entwicklung, die eher von den Rändern der Bühnen- und Performancekunst stammt, zu eigen gemacht und man könnte boshaft behaupten, dass es zum guten Ton gehört, hier seine Perücke zu verlieren. Oder Schlimmeres. Denken wir an die Nackten, die alle paar Wochen ein Premierenpublikum vergrätzen… Solche Momente von Präsenz laufen Gefahr zur ästhetischen Fingerübung zu werden, deren Relevanz im Rahmen der Vorstellung sich nicht recht erschließt, geschweige denn ihr politisches Potential. So leider auch im „Geizigen“ von Bosse/PeterLicht/Molière.

Und wie verhält es sich mit Haarteil Nummer 2? Bei Andcompany&Co., wo ohnehin kein Fetzen des pompösen Kostüm- und Bühnenbildes an seinem Platz bleibt, hält man sich, nur weil Lenz’ „Pandämonium Germanicum“ im Titel schwirrt, noch lange nicht mit dramatis personae auf. Andreas Karschnia spielt keine Rolle, also kann er auch nicht enttarnt werden. „Echte Menschen, die sich selbst entäußern! Sich selbst spielen! Es gibt keine Künstler mehr!“ So einfach ist das? Aber selbstverständlich nicht. Und schon gar nicht, wenn das Komplexitäts-Kollektiv Andcompany&Co. am Werk ist, das immer zuerst das eigene Tun auf der Bühne ironisch hinterfragt. Hier geht die Rechnung so: Wenn der Mensch, der auf der Bühne eine Perücke trägt, selbige verliert, dann bleibt der Mensch auf der Bühne. Und der ist nie authentisch, egal ob Künstler oder nicht. Von ihm kann man absolut nichts wissen. Nicht dass man es – in Zeiten von „Wetten das?“ und „Dschungelcamp“ – tatsächlich will.

Andcompany&Co. haben die postdramatische Schraube im Gewinde des deutschen Kulturbetriebes weitergedreht. Hier mauserte sich schon Goethe vom Stürmer und Dränger zum deutschen Klassiker. Keine echte Kulturrevolution, die nicht einen Fernseh-Zweiteiler hergäbe. Kein wirklich Gestürzter, der nicht anschließend zum Medien-Star avanciert. Mittendrin tragen Andcompany&Co. die Logos ihrer Förderer wie Superheldenembleme auf die Kostüme geflickt. Sie schlagen die Hoffnung auf Authentizität und kritische Kunst zusammen mit dem Glauben an die Verantwortung des Zuschauers in den Wind. Und zwar mit Pauken und Trompeten! Sie sind die Quälgeister, nach denen die alternative Kulturszene rief, das wissen sie genau und machen keinen Hehl daraus. Und so bleibt ihr „Handeln! Handeln! Handeln!“ zwar in der Luft hängen, aber man kann sich nie sicher sein, ob es nicht doch vielleicht ernst gemeint war – so ein kleines bisschen jedenfalls.

Termine:

„Der Geizige“ läuft im Maxim Gorki Theater Berlin am 28. Januar, 9., 20. Februar und am 11. März 2011, jeweils um 19:30 Uhr.
Andcompany&Co. feiern ihre nächste Premiere am 12. März 2011 am Deutschen Theater Göttingen. Arbeitstitel: „Wunderkinder“.

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