In den ersten zehn Minuten des Films ist Brandons Penis häufiger im Bild als sein Gesicht. So lernen wir die Hauptfigur in Steve McQueens „Shame“ kennen. Brandon läuft nackt in kühlem Licht vom Schlafzimmer ins Bad, wobei er eine Namenlose zurücklässt. Zu dieser Choreographie fleht die Stimme seiner Schwester vom Anrufbeantworter darum zurückgerufen zu werden. Diese Szene wiederholt sich mehrmals, bevor wir es ausführlicher mit Brandons Antlitz zu tun bekommen. Mit seinem Raubtierblick schaut er im Hausflur und in der U-Bahn Frauen hinterher, verführt in Bars und Clubs gewandter als sein ständig quasselnder Kollege. Mit seinen Augen jagt er, was sein Körper braucht – Sexpartner in großer Zahl.
Wenn Brandon (Michael Fassbender) keinen Sex hat, dann arbeitet er. Aber auch sein Arbeitsplatz spannt sich im Film zwischen dem Schreibtisch, von dem gerade der mit Pornos verseuchte Computer entfernt wurde, und den Toiletten auf, wo Brandon masturbiert. Wieder zu Hause empfängt er in seiner kargen Wohnung Prostituierte oder trifft sich mit ihnen im Online-Chat. Ohne viele Worte erzählt „Shame“ von einem Mann, der Sex braucht. Mehr Sex als man vielleicht für normal hält? An Orten, die man vielleicht nicht adäquat findet? Definitiv aber ohne die romantischen Geschichten, in die er normalerweise im Film eingebettet wird.
Als Brandon dann doch so eine romantische Geschichte ausprobiert und sich mit seiner Arbeitskollegin Marianne verabredet, scheitert er ausgerechnet im Bett. Sex, Sympathie und so etwas wie Romantik scheinen bei ihm nicht zusammen zu gehen. Ähnlich ist es bei seiner jüngeren Schwester Sissy (Carey Mulligan), die nach zahllosen unbeantworteten Anrufen plötzlich bei ihm auftaucht. Sie wünscht sich im Gegensatz zu Brandon Liebe und Zuneigung, aber auch bei ihr reicht es nur für Bettgeschichten. Wo sie Halt in der geschwisterlichen Nähe sucht, droht für ihn die emotionale Bindung der beiden seinen wohl geordneten Alltag durcheinander zu bringen.
„Shame“ erzählt eine merkwürdige Leidensgeschichte. Die Bilder und Episoden aus Brandons ausschweifendem Sex-Leben scheinen vertraut. New York lieferte die Kulisse für so viele urbane Mythen von freien und einsamen geschlechtlichen Wesen, dass man annehmen könnte „Shame“ sei nur ein weiterer auf der Liste. Dass für Brandon der nächste Orgasmus so etwas wie der nächste Schuss eines Junkies ist – so zwingend wie unbefriedigend – erzählt der Film erst eilig im letzten Drittel. Welchen Teil in ihm das Auftauchen seiner Schwester anrührt, bleibt der Spekulation der Zuschauerin überlassen.
Das Leiden der Geschwister ist in der ersten Hälfte von „Shame“ diffus – und wirkt in der zweiten, wenn sie außer Rand und Band geraten, hölzern. Brandons Absturz wird anhand eines nächtlichen Besuchs auf der Toilette eines Schwulenclubs erzählt (gar nicht queer!). Sissy schlitzt sich – ganz das Paradebild von der weiblichen Autoaggression – im Badezimmer die Pulsadern auf. Und warum? Weil unter dem postmodernen Bild entfesselter Sexualität etwas Unaussprechliches schlummert? Weil es ein schmaler Grad ist, zwischen der Abhängigkeit von Nähe, die den Menschen ausmacht, und einer Sucht nach körperlichen Kicks, die dem Individuum gefährlich wird? „Shame“ ist schön gefilmt, aber so spärlich erzählt, dass am Ende die Anzahl der Lücken, die man selbst spekulativ füllen muss, Unzufriedenheit auslöst. Ob er provozieren wird, bleibt abzuwarten.
„Shame“ läuft seit dem 1. März in den deutschen Kinos.