Spannend an gegenwärtiger Kunst ist, dass sie alles kann und alles darf. Die indische Künstlerin Ritu Jain findet für diesen Gedanken eine sehr simple und daher umso bestechendere Ausdrucksform. Ihre Bilder verbinden zwei Welten, die man, abgesehen von oft mit Grauen beäugten Baumarkt-Kandinsky/Miró/van Gogh-Fertigrahmungen im Einwohnermeldeamt oder in Anwaltskanzleien, selten zusammen denkt: Kunst und Büro, fast stolpert es mir heraus: Bürokratie. Ihre Motive, solange man sie überhaupt Motive nennen kann, zeichnete sie in ihrer just in Delhi beendeten Ausstellung „Still…within“ ausschließlich mit Kugelschreibern. Blau, schwarz, rot. Mehr gibt es nicht. Materialien sind lediglich Werkzeuge, betont sie. Was der Betrachter letztendlich daraus macht, kennt keine Beschränkungen. Klar. Folgt man der Maxime vieler moderner Kunst, soll diese schließlich nicht das Sichtbare darstellen, sondern etwas sichtbar machen, was anderenfalls verschlossen bliebe.
Ordnung und Chaos sind zentrale Themen in ihren Bildern, mit sanften Formen, mal räumlich, mal taktil. Es geht dabei um eine Kunstbewegung, die sich vom Materiellen und Chaos hin zum Spirituellen und Rhythmischen entwickelt. Sowohl der Prozess der Herstellung als auch der Prozess der Betrachtung hat hierbei einen meditativen Ursprung und eine meditative Absicht. Alles ist verbunden. Obwohl Ritu sich selbst nicht als Buddhistin bezeichnet, sieht sie klare Verbindungen zur buddhistischen Tradition. Es soll nicht blind geglaubt, sondern erkannt werden. Und sie ist nicht die einzige in Indien, die sich dieser Entwicklung zuschreibt. Zahlreiche Künstler befinden sich auf ähnlichen Wegen und immer geht es darum, Kunst nicht nur als Ornament, sondern eben auch als Bestandteil von Meditation auf Künstler- und Betrachterseite zu registrieren.
So findet Geburt in ihren abstrakten Bildern ebenso eine Ausdrucksform wie Tod, Kosmologie, Chaos und Ordnung, aber auch ganz konkrete Dinge und Formen, wie Haare oder Fell. Die Assoziation Büro, die bei der Verwendung von Kulis bei mir direkt einsetzt, bindet diesen ernsthaften Themen einen schönen Wolf auf und entwickelt somit eine unerwartet humorvolle Ebene. Der Mensch ist nie fertig, immer muss er weitergehen in seiner Entwicklung. Linien verbinden sich, finden kein Ende, verlieren sich im Chaos, tauchen vielleicht an anderer Stelle wieder auf. Manche Bilder der Ausstellung wirken, als würden sie gleich einstürzen. Gleichzeitig schreiben sich andere Formen in ihren Wiederholungen ein wie ein seismografisches Mantra. Der Atem Indiens. Ein stabiles Chaos, über das man sich manchmal nur wundern kann. „That’s India“, sagt Ritu darauf. Eine gelungene Aussage.