Davor: Nachdem wir an jedem Festivaltag mehrfach an ihr vorbei geschlendert waren und verstohlen aus dem Augenwinkel beobachtet hatten, wie sie in ihre Tuba blies oder im Kimono Klopapier verteilte, trauten wir uns am letzten Freischwimmer-Abend in Berlin ran an die Frau. Und wir hatten Glück. Barbara Ungepflegt schnallte uns höchstselbst den Sicherheitsgurt für die Notstand-Besteigung um. TÜV-verschnürt und mit dem signierten Haftungsausschluss für mögliche Unfälle machten wir uns einzeln auf den Weg nach oben.
Drin: „Wir leben im Zeitalter der Gleichzeitigkeit, des Aneinanderreihens, des Nahen und Fernen, des Nebeneinander und des Zerstreuten. Die Welt wird heute nicht so sehr als ein großes Lebewesen verstanden, das sich in der Zeit entwickelt, sondern als ein Netz, dessen Stränge sich kreuzen und Punkte verbinden.“ So beschreibt Michel Foucault in Von Anderen Räumen, was er das Zeitalter des Raumes nennt. Barbara Ungepflegts Hochstand zur Noterzeugung ist eine rustikale Holz-Heterotopie im besten Foucault’schen Sinne. Er verkörpert die „Fähigkeit, mehrere Räume, mehrere Orte, die eigentlich nicht miteinander verträglich sind, an einem einzigen Ort nebeneinander zu stellen.“ Kreuzstich-gestickte erotische Bildchen, ein Kabinett der Burka-Trägerinnen, Lebkuchenherzen verziert mit sprachlichen Fundstücken aus einer österreichischen Bildungskampagne („Mut zu Eliten“), der Papst und Guttenberg als Spieluhr mit Gummistrippe.
Die Liste der Kuriositäten, die da auf knapp zwei Quadratmetern zusammengetragen wurden, ließe sich noch lange weiterführen. Die Stränge kreuzten und Punkte verbanden sich, sodass man in diesem Strudel aus Diskursen froh über den Haltegurt sein konnte. Religiöse und politische Eliten, sexuelle Befreiung, Kunst- und Kulturförderung, Vegetarismus? Mit einer Ahnung davon, wo die Macherin dieses speziellen Raumes politisch steht, und nicht ohne Eintrag ins Gästebuch, traten wir den Abstieg an.
Danach: „Eine essende Hostesse ist eine hässliche Hostesse!“, besagte ein Graffiti da oben. Darauf angesprochen erklärte Barbara Ungepflegt, dass es sich da um eine autobiografische Anekdote handele. Und die Lodenjacke, in der sie vor‘m Notstand Tuba spielt? Autobiografisch. Auch die Kulturinstitutionen, denen im Notstand für ihre Nicht-Unterstützung gedankt wird: Natürlich, eine persönliche Erfahrung bei der Produktion. Aber wessen Autobiografie ist das? Mit wem reden wir da eigentlich? Kann eine Kunstfigur wie Barbara Ungepflegt eigentlich eine Biografie haben? Ja, kann sie. Diese Biografie entsteht aus persönlicher Erfahrung (wessen auch immer) in verschiedenen Jobs zum Broterwerb, den damit verbundenen Demütigungen, deren Reflexion in der künstlerischen Produktion (auch wieder ein Job) und den neuen Demütigungen, die damit wiederum einhergehen.
Als Besucher des Notstands ist man gleichzeitig Konsument und Brötchengeber, Komplize in künstlerischen Belangen und unter Umständen sogar Leidensgenossin. Foucault sagt, unser Leben entspanne sich „zwischen dem öffentlichen und dem privaten Raum, zwischen familiärem und gesellschaftlichem Raum, zwischen dem Raum der Kultur und dem der Nützlichkeit, zwischen dem Raum der Freizeit und dem der Arbeit.“ Not macht erfinderisch. Der Notstand macht die Nöte der Erfinderin nutz- und konsumierbar, aber er lässt sie nicht vergessen.