Katalanische BurgenDie verrückte Tradition der Castells

Bild aus dem Film "Castells" von Gereon Wetzel, 2006 (alle Rechte vorbehalten)

Hi ha una versió d‘aquest text en català.

In Katalonien ist ab 2012 Schluss mit dem Stierkampf. Das Parlament der unabhängigen Region im Norden Spaniens beschloss im Sommer letzten Jahres zugunsten des Tierschutzes und gegen die Tradition. Damit ist Katalonien nach den Kanarischen Inseln die zweite Region Spaniens, die ihre Arenen endgültig schließen will. Die Entscheidung gegen den spanischen Nationalsport heißt aber noch lange nicht, dass die Katalanen keine Sinn für durchgeknallte Traditionen haben. Ganz im Gegenteil. Im gleichen Jahr, in dem der Stierkampf aus der wirtschaftsstärksten Region Spaniens verbannt wurde, erhielten die Katalanen für ihre „Castells“ von der UNESCO den Titel „immaterielles Weltkulturerbe“.

Castell bedeutet auf Katalanisch Burg. Die Castellers steigen einander auf die Köpfe und Schultern und bilden Menschentürme mit bis zu zehn Etagen. Einer Burg gleichen diese Türme nicht nur metaphorisch, sie spiegeln auch die Einwohnerschaft einer Burg oder eines Dorfes wieder, denn jeder kann mitmachen in der „Colla“. Ganz unten in der Mitte stehen die bulligsten Männer mit den buchstäblich breitesten Schultern. Sie werden von vielen Reihen weiterer Mitstreiter verstärkt, die die Basis des Turms bilden. Je höher die Etage, desto leichter werden die Castellers und natürlich jünger. In den Zwischenetagen sind viele Frauen zu finden und nach ganz oben klettern die Allerkleinsten. So verteilt sich der Druck gleichermaßen auf die Spitze und den Sockel des Castells. Wer unten steht muss zwar am meisten Gewicht tragen, aber auf die „Enxanetas“ an der Spitze sind die Augen der Zuschauer und die Erwartungen der Truppe gerichtet.

Den Vereinsalltag einer der ältesten Collas Kataloniens, der Colla Jove aus Valls, zeigte 2006 Gereon Wetzel in seinem Dokumentarfilm „Castells“. Da gibt es ehrgeizige Mütter, die ihre Kinder ganz an der Spitze sehen wollen, Hahnenkämpfe im Trainer-Team, Rivalitäten mit den konkurrierenden Collas und natürlich die nervenaufreibenden Wettbewerbe, in denen gewinnt, wer die höchsten und spektakulärsten Türme unfallfrei auf- und vor allem auch wieder abbaut. Die schönste Nebensache der Welt – eben auf katalanisch.

Die schönste Szene des Films zeigt die Colla Jove bei einem wichtigen Wettbewerb. Während in der ehemaligen Stierkampf-Arena, in dem der Concours stattfindet, ein überdimensionales Banner mit der Aufschrift „Catalonia is not Spain“ entfaltet wird, sind die Castellers der Colla damit beschäftigt die letzten Details in ihrer Taktik zu besprechen. Völlig vertieft zeigen sie keinerlei Interesse an dem kulturpolitischen Kampf rund um Kataloniens Autonomiebestrebungen, vor dessen Karren die Castells als kulturelle Eigenheit der Region immer mal wieder gespannt werden.

In Wetzels Films ist viel davon zu spüren, was die UNESCO in ihrem Übereinkommen über die Bewahrung des immateriellen Kulturerbes für den Kerngedanken der Verleihung des Titels erklärt:

Dieses immaterielle Kulturerbe, das von einer Generation an die nächste weitergegeben wird, wird von Gemeinschaften und Gruppen in Auseinandersetzung mit ihrer Umwelt, ihrer Interaktion mit der Natur und ihrer Geschichte fortwährend neu geschaffen und vermittelt ihnen ein Gefühl von Identität und Kontinuität. Auf diese Weise trägt es zur Förderung des Respekts vor der kulturellen Vielfalt und der menschlichen Kreativität bei. Im Sinne dieses Übereinkommens findet nur dasjenige immaterielle Kulturerbe Berücksichtigung, das mit den bestehenden internationalen Rechtsinstrumenten im Bereich der Menschenrechte sowie mit der Forderung nach gegenseitiger Achtung zwischen den Gemeinschaften, Gruppen und Individuen und nach einer nachhaltigen Entwicklung im Einklang steht.

Zur nachhaltigen Entwicklung zählen bei den Castells wohl die Sicherheitsvorkehrungen, die dazu führen sollen, dass die halsbrecherischen Menschentürme, wenn sie mal misslingen und einstürzen, keine Todesopfer oder Schwerverletzen fordern, wie es in der Vergangenheit immer mal wieder der Fall war. Beispielsweise müssen seit 2005 die kleinsten Castellers, die am höchsten klettern, Helme tragen.

Übrigens: die umtriebigen Katalanen sind nicht die einzige spanische Region, deren kulturelle Besondersheiten von der UNESCO für besonders schützenswert erklärt wurden. Gleich vier weitere Titel wurden vergeben: für den andalusischen Flamenco, den sogenannten Sybillengesang von der Insel Mallorca, die Falknerei und dann gleich noch – wie lecker – für die mediterane Diät.

Kommentare deaktiviert  Verschlagwortet mit , , , , , , ,

Die Kommentarfunktion ist geschlossen.