Die Entdeckung Deutschlands durch die MarsbewohnerVortrag von Britta Lange über eine fiktive Ethnografie

Die Redaktion der Marszeitung: "Der Sonnensee" (Bild: Lichtbildbühne Nr. 8, 24.2.1917, Anzeige, S. 14-15. Alle Rechte vorbehalten)

Dieser Text ist das Ergebnis eines Schönschrift-Experiments. Im Rahmen der Vorlesungsreihe Konstruktiv. Gender, Class, Race & Bodies. an der Fachhochschule Potsdam durften wir unseren Blog präsentieren. Alle Besucher des anschließenden Vortrags waren eingeladen, diesen Text in Kollaboration zu erstellen. So kommt es, dass dieser Artikel vier Autor_innen hat: Till Claassen, Katja Grawinkel, Johanna Heide und Philipp Weber.  Alle Notizen wurden dazu miteinander geteilt, sie sind unten zu sehen. Der Text entstand dann im Echtzeit-Kollaborations-Tool Etherpad.

Der Vortrag „Die Entdeckung Deutschlands durch die Marsbewohner. Eine fiktive Ethnografie“ von Britta Lange behandelte einen Science-Fiction-Propagandafilm von 1917. Der ursprünglich etwa einstündige Film existiert heute nur noch in einem ca. 18 Minuten langen Zusammenschnitt einer niederländischen Kopie. Das vorhandene Material wurde im Laufe des Vortrags komplett gezeigt, den verlorenen Rest des Films rekonstruierte Lange anhand der in einer Zensurkarte von 1924 überlieferten Zwischentitel des Stummfilms. Der Vortrag war damit nicht nur eine rare Präsentation von gut gehütetem Material, sondern auch ein Lehrstück in medienhistorischer Quellenkunde – und dabei unterhaltsam.

Die Ankunft von Marsbewohnern auf der Erde ist im Fahrwasser der Moderne ein beliebtes Thema. Auch „Die Entdeckung Deutschlands durch die Marsbewohner“ greift den Mythos der überlegenen Wesen aus dem All auf und verortet den Ursprung der Außerirdischen ebenso auf dem Mars. Auf Grund seiner Helligkeit konnten Phänomene auf der Oberfläche schon zu Johannes Kepplers Zeiten beobachtet werden, die  Erklärungsansätze trieben die Spekulation auf außerirdisches Leben an. So wurden variierende Flecken im 18. Jahrhundert als Vegetationszonen beschrieben, wenig später wurden Gräben entdeckt, die von der Sensationspresse kurzerhand als künstliche Kanäle und damit zur Leistung von Ingenieuren erhoben wurden.  Dass der rote Planet von den Erdlingen den Namen des Kriegsgottes erhielt, färbt auch auf die Vorstellungen von den Marsbewohnern ab, die fortan als technologisch überlegene, die Menschheit bedrohende Lebensform gesehen wurden. In H. G. Wells „The War of the Worlds“ von 1898 steht die menschliche Zivilisation vor der Vernichtung durch die Marsianer. In Anbetracht der zahlreichen Konflikte und des sich anbahnenden Ersten Weltkrieges, lässt sich der Mythos des Außerirdischen zusammenfassen: Das Fremde kommt bedrohlich näher und ist uns weit überlegen!

Bild: Lichtbildbühne Nr. 8, 24.2.1917, Anzeige, S. 14-15. Alle Rechte vorbehalten.

Nicht zuletzt dadurch erscheint der friedliche Besuch der Marsianer im Film besonders bemerkenswert. Kann doch der einzige „neutrale“ Beobachter zu Zeiten des Ersten Weltkriegs nur von Außen kommen – und damit aus dem Weltraum. Dort wird verlautbart, die Deutschen befänden sich nach zwei Jahren des Krieges in der Krise und stünden kurz vor der Niederlage. Das kann natürlich weder das zeitgenössische Kinopublikum glauben noch die außerirdischen Erden- (und Deutschen-)Freunde. Die Expedition zur Erde soll Klarheit verschaffen. Und sie tut es, gemäß der propagandistischen Zielsetzung. So werden nicht nur Nahrung und Luxusgüter in Hülle und Fülle – und in authentisch anmutenden Filmbildern – gezeigt, sondern auch die Herstellung von Kriegsgerät in den Krupp-Werken oder der Verweis auf die technologischen Fähigkeiten im U-Bootbau oder der intakten Verkehrsinfrastruktur der Reichsbahn.

Wohlgemerkt sieht die Realität im Frühjahr ganz anders aus: Der Winter 1916/17 gilt als Ernährungskrise, da nicht nur Ernteausfälle des Vorjahres die Bevölkerung treffen, sondern auch die Versorgung der Großstädte im Winter durch Verkehrsschwierigkeiten zusammenbricht. Wie passt hier die erlebte Realität und die filmische Welt zusammen? Ist der Film also nur bedingt für den deutschen Kinomarkt produziert worden? Die im Bundesarchiv aufgetauchten 18 Minuten haben niederländische Zwischentitel, insofern liegt die Vermutung nahe, dass der Film hinter und in der Nähe der feindlichen Linien ein starkes Deutsches Reich präsentieren soll.

Die Kulturwissenschaftlerin Lange ordnet „Die Entdeckung Deutschlands durch die Marsbewohner“ in einen Kontext medienbasierten Wissens über das Eigene und das Fremde ein. So waren zu Beginn des 20. Jahrunderts filmische Dokumente aus ethnografischen Forschungsreisen populär, die „Wilde“, „Zigeuner“ oder „Neger“ zeigten – und nebenbei Zeugnis von der Überlegenheit der eigenen Wissenschaft und Medientechnik ablegten. „Die Entdeckung Deutschlands…“ dreht den Spieß um. Das Eigene wird durch die Augen der Fremden gesehen, die man sich freilich selbst erschafft. Dieses Fremde wird dabei vom Feindlichen unterschieden, von dem nur falsche Propaganda zu erwarten ist, und stattdessen mit den eigenen Methoden fortschrittlichen und neutralen Forschens ausgestattet. So entsteht ein auf den ersten Blick selbstreflektierter Film, der tatsächlich jedoch – da Beobachtete und Beobachtende letzlich identisch sind – eher affirmativ und heuchlerisch ist: ein Propagandafilm.

Lange kommt in ihrem beeindruckenden Vortrag, der „Die Entdeckung Deutschlands…“ als ein Stück Filmgeschichte in den größeren Kontext der Ethnografie einbettet, zu dem Schluss, dass die Grenzen zwischen (Science-)Fiktion und wissenschaftlicher Wahrheitssuche weniger klar gezogen werden können, als gemeinhin angenommen. Erst recht nicht, wenn man die mediale Verfasstheit beider Felder ernst nimmt.

Notizen zu diesem Artikel als PDF. Die Entstehung dieses Textes ist komplett im dazugehörigen Etherpad nachvollziehbar.

2 Kommentare  Verschlagwortet mit , , , , , , , , ,

2 Antworten auf Die Entdeckung Deutschlands durch die Marsbewohner | Vortrag von Britta Lange über eine fiktive Ethnografie

  1. ph4 sagt:

    Schön wäre noch beispielsweise dieser Schlusssatz gewesen (inhaltlich einem Zwischenkommentar von Bitta Lange entnommen):

    „Zu dem lässt sich anhand des Filmes der subjektive und fiktive Charakter von Ethnografie im allgemeinen aufschlüsseln, da jede Ethnografie nicht nur das Andere (Alterität) sondern selbstreflektierend auch immer das Eigene (Identität) untersucht.“

    Als Ergänzung zum Thema fällt mir noch ein:
    Mockumentary „Das Fest des Huhnes“

  2. ph4 sagt:

    Hat leider beim ersten Kommentar nicht geklappt:

    Keene-Ahnung.tk