Die Wissenschaft des Küssens heißt Philematologie. Sie erforscht, „warum Lebewesen gegenseitig ihre Lippen berühren, den Mund öffnen und, je nach Intensität, ihre Zungen dabei Kontakt spüren lassen“, schrieb Sebastian Herrmann einmal in der Süddeutschen Zeitung. Es geht um die evolutionären Wurzeln des Küssens, um Botenstoffe im Speichel und die Neigung des Kopfes (meistens nach rechts: bei zwei von drei Küssern). „Ein Kuss ist der schönste Liebesbeweis zwischen einem Jungen und einem Mädchen“, schreibt das Mädchen-Magazin und hat auch gleich eine Umfrage gestartet, ob man beim ersten Date gleich schon mit oder ohne Zunge küssen soll (1344 pro, 732 contra). Die Gala hat eine Liste der spektakulärsten Küsse des letzten Jahrzehnts erstellt. Ganz oben: Madonna, die bei den MTV Music Awards 2003 zuerst Britney Spears und dann Christina Aguilera küsste.
Wer gedacht hat, dass es sich beim Küssen um eine intime Beschäftigung handelt, dem sei mit dieser kleinen Presseschau widersprochen. Unbelehrbaren empfiehlt sich außerdem der „Romantic Afternoon*“ von Verena Billinger und Sebastian Schulz beim Freischwimmer Festival in den sophiensælen. Das Publikum ist eingeladen, einer knappen Stunde Dauerknutschen auf der Bühne zuzusehen.
Es fängt an, wie wir es aus ungezählten Filmszenen kennen. Zwei stehen sich gegenüber, die Augen geschlossen. Sie lehnen sich einander entgegen und alle wissen, was gleich passiert. Nur dauert es ein bisschen länger als im Fernsehen und das Schmatzen (endlich!) wird nicht von Hintergrundmusik übertönt. Es folgt nicht der Abspann nach dem Happy End, sondern das ist erst der Anfang. Es folgen 50 Minuten, in denen die sechs auf der Bühne alle denkbaren Positionen, Konstellationen, Tempi und Intensitäten des Küssens zur Schau stellen.
Den Zuschauer befallen gleich mehrere ambivalente Gefühle. Eine Mischung aus Vertrautheit und Befremdung. Der Anblick ist bekannt, doch das Gefühl vermittelt sich nicht. Etwas zwischen Scham und Voyeurismus. Das Zuschauen ist gewollt, ja forciert, aber es fühlt sich trotzdem nicht richtig an. Ein gleichzeitiges Verstehen und Nicht-Verstehen. Es vermitteln sich mimetisch die Bewegungen der Körper, aber in ihrer Anonymität auf der leeren Bühne und ohne jegliche Narration bleiben das Küssen und die Küssenden ohne Sinn.
Den Zuschauer und die Darsteller trennt eine unüberwindliche Schwelle. Die da vorne sind so völlig bei sich und mit sich beschäftigt und in den Reihen ist man zu untätigem Zusehen verurteilt. Jedes Kichern und Husten eine Erleichterung. Und trotzdem stellt sich immer wieder die irritierende Frage: Für wen machen die das eigentlich? Es ist zu deutlich, dass eine Choreografie, ein Plan, ja eine Profession dahinter steht, als dass man der Illusion erliegen könnte, hier einer intimen Orgie beizuwohnen – tatenlos wohl bemerkt. Aber es fällt kein Wort, es gibt nicht mal einen Blick ins Publikum. Der Diskurs liegt hinter oder unter den Küssen. Keine verbale Botschaft über die Liebe und ihre Posen, über das Innen und das Außen, das Homo-hetero-poly-affektive und die Norm. Man könnte meinen, dass es sich hier einzig um ein Experiment handelt, eine Übung für den Performerkörper. Nur kommen die Regisseure Verena Billinger und Sebastian Schulz von keiner Forschungseinrichtung für Philematologie, sondern vom Institut für Angewandte Theaterwissenschaft in Gießen. Oder gibt es da jetzt eine Kooperation?
Direkt aus der Vorstellung am 15. März gab es eine Live-Kritik in Schönschrift.
Ganz meine Meinung. Hab auch deinen/euren 1. Beitrag gestern gelesen und ganz offensichtlich haben wir unabhängig die selbe Schreibweise verwendet. Also, kann ich nur zurückgeben..