Vorsicht spielende KünstlerDie Kinder verschwinden – Die Erwachsenen auch

Bild: Schauplatz International, Franzisker Frutiger (alle Rechte vorbehalten)

Vor allem müssen die Menschen aufhören können, wann es ihnen gefällt, müssen sagen können: Ich spiele nicht mehr.“  Sagte der französische Philosoph Roger Caillois. Er sagte das, weil er sagen wollte, Spiele seien freiwillig. Wenn man dazu gezwungen werde, handle es sich nicht um ein Spiel, sondern um einen Beruf. Oder um Krieg oder vielleicht um Liebe. Mit-dem-Spielen-Aufhören hieß auch einmal Erwachsen-Werden. Das ist schwierig geworden. Warum? Dafür gibt es zwei Erklärungen, die aber auf’s gleiche hinauslaufen: Das Verschwinden der Kindheit, respektive das Verschwinden der Erwachsenen. Der Kulturtheoretiker Neil Postman ging – wie Philippe Ariès – davon aus, dass die Kindheit ein zwar historisch erfundenes, zivilisatorisch aber besonders wertvolles Lebensalter zwischen sieben und 17 sei. Begrenzt wurde es nach oben vor allem durch die Unfähigkeit zu Schreiben, zu Lesen und das Gelesene zu verstehen. Durch die Ablösung der Schriftkultur durch die Bildkultur im Zusammenhang mit dem Siegeszug der elektronischen Medien seit den 1950er Jahren löste sich diese Grenze, so Postman, auf. Kinder wurden symbolisch in die Erwachsenenwelt integriert und passten ihr Handeln, Denken und Wünschen jenem der Erwachsenen an. Die eigene Welt der Kinder ging verloren.

Neulich von einem erschütternd guten Beispiel für diesen Gedanken gelesen: Micaela Schäfer, von der ebenso hochtrabende wie scheinheilige Schlagzeilen sagen, ihre momentane mediale Präsenz komme einem Aufstieg auf die unterste Stufe öffentlichkeitsrelevanten Niveaus gleich, soll halbnackt eine Autogrammstunde gegeben haben, zu der fast nur Kinder kamen. Weshalb es Schäfer offenbar angebracht fand, sich etwas überzuziehen, weil die Seichtgewässer der Boulevard-Pornographie doch nicht ganz zum gesellschaftlich verteidigten Restgebiet des Kinderlandes gehören. Micaela Schäfer ist vermutlich ein Produkt der Bild- und nicht der Schriftkultur und niemand sollte sich darüber lustig machen. Ich weiß nicht, wie man den Beruf dieser Frau nennt. Aber wie das heisst, was ich tue, weiß ich auch nicht. Als Schäfer jedenfalls ihren Namen schrieb – und zwar mutmaßlich auf Autogrammkarten mit ihrem Bild – unterschrieb sie Postmans These gleich mit.

Der Publizist Sascha Lehnartz diagnostiziert den gleichen Effekt, das Verschwinden der Grenze zwischen Kind- und Erwachsenenwelt, aus umgekehrter Richtung: Er geht von einer Ausdehnung der Kindheit bis weit in die Lebensmitte aus, einer Infantilisierung bis zur Pension. Verantwortlich macht er dafür weniger medienhistorische Gründe wie Postman, sondern ökonomische. In einer durch den Neoliberalismus gestalteten Wirtschaftswelt ist die Möglichkeit, von der eigenen Arbeit zu leben derart verknappt, dass viele bis weit in ihr Erwerbsalter nicht in der Lage sind, eine finanziell tragfähige Grundlage für ihr Leben zu schaffen. Sie leben von der wirtschaftlichen Leistung der Generationen vor ihnen: Unterstützung von Zuhause, Erbe, Sozialstaat. Und von der Hand in den Mund. Und von den Freunden, die man gleichzeitig liebt und ausnutzt.

Diese ökonomische Unselbständigkeit trifft nicht selten genau jene, die ihr Leben als ideellen Autonomieentwurf verstehen und irgendwo im verästelten System der Informationsgesellschaft Arbeit und Entfaltung zu finden hoffen. Mit einem Wort: Künstler. Die Distanz zwischen ökonomischer Abhängigkeit und Souveränitätsanspruch führt folgerichtig, so Lehnartz, zu einer ironischen Infantilisierung, der sich eine ganze Generation – die deshalb nicht zwingend rückwärtsgewandt sein muss, im Gegenteil – hingegeben hat. Er nennt sie doppeldeutig die „Global Players“.

Nun seien aber, wieder laut Roger Caillois, Künstler gar keine Spielenden, sondern einfach „Berufstätige“, wie „Radfahrer, Boxer, Jockeis“, weil sie das, was sie tun nicht ausschließlich freiwillig tun. Wenn diese Berufstätigen, so Caillois, „spielen, spielen sie bestimmt ein anderes Spiel.“ Das ist ein respektvoller Satz. Er hilft zu begreifen, dass das, was ich tue, doch ein Beruf sein könnte. Und dann ist das auch ein zerschmetternder Satz, weil er klar macht, dass ich vergessen habe, was das war, das „andere Spiel“. Und wie sehr ich mich danach sehne.

Martin Bieri ist Teil der Theatergruppe Schauplatz International. Am 15. März fand im Schlachthaus Theater in Bern die Premiere des Stückes „Der Spielplatz“ von Schauplatz International statt: ein Mehrgenerationenstück. Im Schweizer Radio DRS gab es eine ausführliche Besprechung. Weitere Vorstellungen: www.schauplatzinternational.net

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