Virtuelle Sheriffs bei blueservo.netCowboyspiel, Social Network oder patriotische Jagd?

Verpixeltes Bild einer Wüste.

Screenshot: blueservo.net, alle Rechte vorbehalten

Im selben Augenblick, da die Einheit des irdischen Raumes denkbar wird und die multinationalen Netze an Stärke gewinnen, verstärkt sich auch der Lärm der Partikularismen, all derer, die für sich bleiben wollen, oder derer, die nach einem Vaterland suchen, als wären der Konservativismus der einen und der Messianismus der anderen dazu verdammt, die selbe Sprache zu sprechen: die des Bodens und der Wurzeln.
(Marc Augé)

Dank des selbst ernannten Sozialen Netzwerks BlueServo können Menschen von überall auf der Welt als Virtual Texas Deputies für Recht und Ordnung an der texanischen Grenze zwischen Mexiko und den USA sorgen. Ist man als virtueller Sheriff erst einmal angemeldet und eingeloggt, gilt es lediglich ein bis zwei „kritische“ Orte zur Beobachtung aus einer Liste auszuwählen und schon ist man live mit dabei. Wobei nochmal? Dabei, wie die Kakteen in der Wüste der Sonne entgegen wachsen oder dabei wie gelegentlich ein Windhauch eine Baumkrone oder einen trockenen Busch wanken lässt… Entdeckt der selbsternannte Sheriff nach fleißigem Warten tatsächlich doch etwas ‚Verdächtiges‘, muss er nur auf den roten Button unterhalb des Screens klicken und es wird eine Mail versendet, die dann von BlueServo an den zuständigen lokalen Sheriff weitergeleitet wird, welcher sich der ‚Angelegenheit‘ annimmt.

Eine Grenze erzeugt ein binäres System aus einem Innen und einem Außen; sie fungiert als Markierung dieser Unterscheidung und definiert gleichzeitig – je nach Standpunkt – Zuständigkeitsbereiche, das Eigene, innerhalb Liegende und das Andere, das Fremde. Die Grenze zwischen den USA und Mexiko ist ein unübersehbares Symbol für die alarmierende Kluft zwischen dem Reichtum der nördlichen und der Armut der südlichen Hemisphäre. Der seit 2006 entstehende Grenzzaun manifestiert diese Trennung auf radikale Weise. Und während es als Europäer oder US-Amerikaner ein Katzensprung ist diese Linie zu übertreten, erscheinen die Prozeduren um so absurder, die viele Mexikaner durchlaufen müssen, um die Grenze (wenn überhaupt) überqueren zu dürfen. Tatsächlich ist die Grenze eine der am häufigsten überquerten der Welt. Die enorme Wohlstandskluft zwischen den benachbarten Ländern weckt in vielen Mexikanern die Hoffnung auf ein besseres Leben im Land der unbegrenzten Möglichkeiten, doch nur wenige finden den legalen Weg auf die andere Seite.

BlueServo

Screenshot: "Welcome back to blueservo"

Screenshot: blueservo.net, alle Rechte vorbehalten

Das System von BlueServo basiert auf einem Closed Circuit Television (CCTV) Überwachungssystem. 31 Überwachungskameras sind in der Grenzregion entlang des Rio Grande in Texas installiert und online von überall in der Welt einsehbar. Es genügt eine einmalige Anmeldung um Einsicht auf das Bildmaterial des Live-Streams zu bekommen. Derzeit hat BlueServo ca. 43.000 registrierte Mitglieder. Auf der eigenen Homepage präsentiert man sich als „social network“. Der Anbieter beschreibt das System als eine öffentlich-private Initiative der Texas Border Sheriff’s Coalition (TBSC), die seit ihrer Gründung 2005 ein gemeinsames Ziel verfolgt: „to protect Texans from criminal organizations that had long exploited the state’s southern border“. Als Virtual Texas Deputy kann ein jeder von überall in der Welt Teil des Virtual Community Watch werden; einzig ein Computer mit Internetzugang ist Voraussetzung für die Partizipation am Cowboy-Spiel.

Social Network

Die Präsenz der Medien ersetzt die soziale Anbindung. Das Subjekt erfährt sich selbst als existent, indem es ‚in Erscheinung‘ treten kann und in allen Lebenslagen einem ‚Bild‘ zu entsprechen versucht. Als Instanz der Selbstwahrnehmung werden die Medien zum reality test der gesellschaftlichen Persona: Ich werde gesehen, also bin ich.
(U. Frohne)

Mit weit über 500 Millionen aktiven Usern weltweit sprengt das social network Facebook alle Rekorde. Soziale Netzwerke (SNS) sind ein relativ junges Phänomen; der Begriff ist nicht geschützt. Michael Koch und Alexander Richter verstehen darunter in ihrer Untersuchung zu „Social-Networking-Diensten“ Anwendungssysteme, „die ihren Nutzern Funktionalitäten zum Identitätsmanagement (d.h. zur Darstellung der eigenen Person i.d.R. in Form eines Profils) zur Verfügung stellen und darüber hinaus die Vernetzung mit anderen Nutzern (und so die Verwaltung eigener Kontakte) ermöglichen“.

Von den sechs von Koch und Richter definierten Funktionalitätsgruppen von SNS kann BlueServo nicht eine erfüllen. Fakt ist, dass das Profil ein elementarer Bestandteil eines social networks ist, so wie die ‚Freundschaftspflege‘ und die Kommunikation mit den ‚Freunden‘, durch persönliche und öffentliche Nachrichten. BlueServo wird den genannten Kriterien einer SNS nicht gerecht. Das elementare Herzstück, das persönliche Profil, existiert nicht. Somit ist die Möglichkeit der Selbstdarstellung via Identitätsmanagement nicht gegeben. Die Identität anderer ‚Deputies‘ ist nicht einsehbar, so dass die Handlungen der Mitglieder auf der Seite nicht nur anonym sind, sondern unsichtbar bleiben. Somit fallen auch Kontaktmanagement und der gemeinsame Austausch weg. Ein Wissensaustausch existiert – wenn überhaupt – nur einseitig.

Anders als bei ‚klassischen‘ social networks wie Facebook oder StudiVZ besteht keine Möglichkeit sich innerhalb der Seite mit ‚Freunden‘ zu vernetzen. Somit wird auch die Funktion der Kontextawareness, also des Aufbaus eines gemeinsamen Wissens und Vertrauens innerhalb des Netzes sowie die Netzwerkawareness, das stetige Informiertsein über Aktivitäten im Netz, nicht realisierbar.

Grenzüberwachung als Live-Event

Auf der Homepage von BlueServo ist die Rede von der Ermächtigung eines jeden vorausschauend und aktiv am Kampf gegen die Kriminalität teilzunehmen. Die Suche nach ‚any suspicious activities‘ beherbergt diese Intention der Beobachtung zwecks Differenzierung. Das Bild der Kamera befördert jeglichen Verkehr vor dem Objektiv in den Status des Suspekten, des Anormalen. Die Methode der Kameraüberwachung produziert im Einklang mit einem von US-amerikanischen Populär-Medien erzeugten Blick auf die Grenzsituation hartnäckig einen dualistischen Ausschließungsmechanismus. Der auf Normalisierung gedrillte Blick registriert das Andere als ein Anormales. Diese Normierungsidee führt zurück zu Michel Foucault, der in der Standardisierung und Kategorisierung einen Mechanismus der Disziplinarmacht sieht. Die User von BlueServo fügen sich in diese Strukturen ein und erleben in der Gruppe der ‚Normalen‘ eine Art Zusammengehörigkeitsgefühl.

Der Deputy ist live dabei. Aber ist er das tatsächlich oder operiert er nur in einer vermeintlichen Realität? Der Performance-Theoretiker Philip Auslander beschreibt im Kontext von Kunstproduktion Live-Events als „real“ und mediatisierte Ereignisse als „secondary“ und „artificial reproduction of the real“. Für ihn ist der Begriff Liveness mit der gleichzeitigen Anwesenheit an einem Ort verknüpft und unterscheidet sich in mancher Hinsicht von der medialen ‚Live-Übertragung‘. Das zunächst ortsabhängige und zeitlich versetzte Rezeptionserlebnis emanzipiert sich durch die Möglichkeiten weltweiter Vernetzung via Internet und was vorher nur in unmittelbarer Nähe live erfahrbar war, bietet sich heute überall und zu jeder Zeit an und führt dabei eine ganz neue Form von Reaktions- und Partizipationsmöglichkeiten mit sich.

Die Vergleichzeitigung von technisch-visueller Aufnahme und Wiedergabe löst bei dem Betrachter ein Gefühl der Teilhabe aus, denn er ist nicht mehr der Instanz der Zeitverzögerung ausgeliefert. Im Fall von BlueServo handelt es sich weniger um ein gemeinschaftliches Dabeisein als um eines aus einer überlegenen Perspektive. Der Blick des Betrachters anwesend, zwischengeschaltet ist jedoch der Blick der Maschine, der Kamera. Betrachter und Objekt agieren in der selben Zeit, jedoch an verschiedenen Orten.

Die Bilder, die sich dem BlueServo Nutzer bieten, unterscheiden sich von Bildern im öffentlichen Fernsehen vor allem auch durch den Aspekt, dass sie nicht nur ‚real‘ sind, sondern dass die Personen vor der Kamera (wenn denn mal welche zu sehen sind) im Normalfall nicht von der Anwesenheit der Kamera wissen. Das Vergnügen an BlueServo besitzt somit eine voyeuristische Komponente. Der Blick des Sheriffs ist Ausdruck einer Lust an Macht und wird zu einem Akt der Gewalt. Voyeurismus im eigentlichen Sinne ist sexuell konnotiert, soweit gehend, dass nach Freud der voyeuristische Akt den sexuellen Akt sogar ersetzen kann. Von einer erotischen Komponente ist bei dem Agieren mit BlueServo wohl eher nicht auszugehen. Auch fehlt hier die für den voyeuristischen Blick typische „Angstlust“: ein erregender Nervenkitzel, der dadurch ausgelöst wird, dass der Voyeur oder die Voyeuse entdeckt und „der Perversität überführt“ werden könnte. Die Angstfrage stellt sich für ihn nicht, denn offiziell handelt er rechtens und agiert völlig anonym vom heimischen Sofa aus.

Ausblick

Die ‚Grenzsicherheit‘ in dem Gebiet zwischen den Vereinigten Saaten und Mexiko ist durch Systeme wie BlueServo durch eine weitere Ebene erweitert worden. Mit Hilfe von Kameras im realen Raum wird auf virtueller Ebene ‚Grenzschutz‘ betrieben. Damit verschieben sich die Kategorien von Zeit und Raum und es erschließt sich ein Geflecht von neuen Möglichkeiten des Agierens und Involviert-Seins, wie auch des Überwachens und Überwacht-Werdens. Der virtuelle Raum eröffnet neue Möglichkeiten der Überschreitung des Nicht-Ortes Grenze, aber auch ihrer Abwendung und Kontrolle. BlueServo ist ein abstruses Beispiel dafür, wie die enorme Mobilität und die Öffnung von Räumen umgekehrt auch eine Schließung implizieren können. Die Begeisterung für die Observierung dieser Ereignislosigkeit entspringt irgendwo im Niemandsland zwischen ‚Pleasure and Paranoia‘ und demonstriert anschaulich wie gesellschaftliche Missverhältnisse auch in den virtuellen Raum weiter getragen werden.

Abschließend lässt sich noch einmal betonen, dass BlueServo seinem Eigenanspruch als social network in keiner Weise gerecht wird. Schon unter banalen semantischen Gesichtspunkten wird unmittelbar deutlich, dass der Service weder ’sozial‘ noch ‚network‘ sein kann. Um so grotesker ist, dass das sogenannte ’social network‘ auf das social network Facebook zurück greift, um dort social network-typische Handlungsräume in Anspruch zu nehmen, die die Seite selber nicht bieten kann. Auf der Facebook-Seite tauschen sich User mit ihren Facebook-Accounts über ihre Erfahrungen bei BlueServo aus oder geben einfach nur ihre Begeisterung kund. Hier treten die Sheriffs aus der Anonymität ihrer Undercover-Identität heraus und können sich nach Belieben darstellen und vernetzen.

Ich würde sogar so weit gehen und den Service als ‚unsocial network‘ bezeichnen, denn sich freisprechend von jeglicher Verantwortung spielen sich die User als Sheriffs im Namen einer naiven und nationalistisch gedachten Ordnung auf, ohne dabei Sinn und Konsequenzen ihres Tuns in Frage zu stellen. BlueServo wird zum schleichenden Action-Spiel mit Echtzeitfaktor, dessen vermeintliche Realität und das Gefühl von Einflusshabe und Macht einen besonderen Reiz auszumachen scheinen. Dass unzählige Menschen ihr Leben ‚aufs Spiel‘ setzen, alles hinter sich lassen, sich körperlichen Strapazen, Dehydrierung, Strafen, kriminellen Schleusern und der skrupellosen Drogenmafia aussetzen scheint den patriotischen Zockern vor lauter Wild-West-Wallungen entgangen zu sein.

Literatur:

- AUGÉ, Marc: Orte und Nicht-Orte. Vorüberlegungen zu einer Ethnologie der Einsamkeit. Frankfurt am Main, 1994
- AUSLANDER, Philip: Liveness: performance in a mediatized culture, 2008
- FOUCAULT, Michel: Überwachen und Strafen. 1975. Ausgabe Frankfurt am Main, 1994
- RICHTER, Alexander & KOCH, Michael: Funktionen von Social-Networking-Diensten. Proceding Multikonferenz Wirtschaftsinformatik 2008, Teilkonferenz Kooperationssysteme, München, 2008

Kommentare deaktiviert  Verschlagwortet mit , , , , , , , , , , , , ,

Die Kommentarfunktion ist geschlossen.