Angel_F ist eigentlich noch ein Kind. Mit Babypuppen-Mündlein und Kulleraugen. Dazwischen ein Fleck. Anschluss-Buchse oder Einschussloch? Ein punctum mitten im Kindchenschema, das den Blick irritiert. Angel_F, das steht für Autonomous Non-Generative E-volitive Life_Form. Ein autonomes Programm, dem seine Erfinder das Sprechen beigebracht haben, ein Hack von Künstlern und Open Source Aktivisten. Künstliche Intelligenz, die einen so freundlich anschaut, dass einem ganz warm wird. Angel_F ist eine Art Maskottchen der transmediale Konferenz mit dem Titel „Body:Response – Biomedial Politics in the Age of digital Liveness“. Es ist das Inter-Face, in dem sich die gegenläufigen Utopien von Pinocchio und Avatar spiegeln.
Carlo Collodis Pinocchio wünscht sich sehnlich, ein richtiger Junge zu sein und erhält am Ende der Geschichte als Belohnung für bestandene Abenteuer das echte menschliche Leben. Jake Sully in James Camerons „Avatar – Aufbruch nach Pandora“, ist dagegen von seinem menschlichen Dasein frustriert und will, als er einmal die Möglichkeiten entdeckt hat, die ihm sein Avatar bietet, gar nicht wieder raus aus der virtuellen Existenz.
Mitten drin findet sich der ganz normale Mensch des digitalen Zeitalters. Verkabelt und verbunden mit der halben Welt oder auch schnurlos und frei, immer erreichbar und trotzdem nie zu Hause. Sein Körper ist medial erweitert und transparent. Jedes Detail seines Lebens kann statistisch erhoben und kategorisiert werden. Gibt es in diesen Zeiten noch einen besonderen Wert des Körpers, der physischen Präsenz oder müssen die Fragen nach Authentizität und gesellschaftlichem Zusammenleben auf neuen Grundlagen aufbauen?
Das erste Keynote Podium der transmediale Konferenz schlug heute Nachmittag den Bogen von der zentralen Frage des Partnerfestivals Club Transmediale „What is live?“ zum Begriff der Digitalen Liveness. Auf insgesamt drei Spuren verfolgen die Transmediale-Kuratoren Aspekte der Präsenz, Identität, Ökonomie und des politischen Handelns in der Ära der sogenannten Echt-Zeit. Und wer hätte den Reigen besser einleiten können, als Philip Auslander? Sein gerade in der zweiten Auflage erschienenes Buch „Liveness – Performance in a Mediatized Culture“ (Routledge 2008) behandelt den Siegeszug des Live-Begriffs im zwanzigsten Jahrhundert.
Es gibt, so Auslander, den Begriff der Liveness oder Live-Performance erst, seit eine Abgrenzung zur medientechnisch erzeugten Aufnahme nötig wurde. In der Dichotomie live/recorded steht Liveness für Authentizität und Einmaligkeit, die gemeinsame Anwesenheit von Zuschauern oder –hörern und Performern am selben Ort zur selben Zeit. Doch der Live-Begriff ändert sich mit der Zeit und mit der medienhistorischen Entwicklung. Er bezeichnet neben der physischen Ko-Präsenz auch die extrem zeitnahe mediale Übertragung eines Ereignisses via Radio, Fernsehen oder Streaming im Netz. Schlussendlich könne man, so Auslander, sogar die gemeinsame Tele-Präsenz in sozialen Netzwerken im Internet oder den Echtzeit-Kontakt via twitter oder SMS als Liveness bezeichnen.
Doch wo bleibt dann der vitale Aspekt, der an den Menschen aus Fleisch und Blut gebunden ist und nicht etwa für ein Angel_F simuliert werden könnte? Auslander hat ihn in seinem „Liveness“-Band gerettet. Egal wie medial oder digital die Liveness auch werde, argumentiert er, letztlich käme es auf die Aktivität des Publikums an, das ein virtuelles Ereignis als live empfindet, es sich aneignet und auf die Ansprache der Technologie antwortet. „Response:Ability“ im besten Sinne.
Von Identifikation, Zugehörigkeit, ja sogar vom libidinösen Verlangen nach physischer Zusammenkunft sprach auch Auslanders Nachfolger auf dem Podium, Erik Kluitenberg. Passend zu papierlosen Büros und dezentralisierten globalen Märkten veranstaltete er mit anderen das Festival „Electro Smog. International Festival for Sustainable Immobility“. Es diskutierten Teilnehmer von Kanada bis Neuseeland mit dem Publikum in Amsterdam. Nur dass sie nicht physisch anwesend waren, sondern per Live-Stream, Video-Konferenz oder Skype. Das war gut für die Umwelt und eine enorme technische Herausforderung, nur für’s Publikum habe es nicht funktioniert, so Kluitenberg. Etwas habe gefehlt, eine Lücke, die auch die raffinierteste Übertragungstechnologie nicht schließen konnte. Auslanders Antwort der Zuschauer auf das mediale Ereignis war hier offensichtlich ausgeblieben. Ein wünschenswerter Effekt der allumfassenden medialen Liveness, nämlich die Reduktion von umweltbelastender Mobilität, bliebe damit zunächst aus, so Kluitenbergs zaghaftes aber nicht verzagtes Fazit.
Mushon Zer-Avivs Vortrag schloss die Runde mit Anmerkungen zum gesellschaftlichen Miteinander unter den Vorzeichen medialer Präsenz. Zentral war hier der Begriff der Öffentlichkeit, der die Diskussion anschlussfähig macht für Fragen zu Demokratie und politischem Handeln, die in den nächsten Tagen folgen werden. Mushon nahm den Aspekt des Publikums in ganz anderer Form auf. Sowohl die Plattformen im Internet als auch öffentliche Plätze und Straßen im urbanen Raum seien durchdrungen von den Blicken eines unsichtbaren Publikums und es sei die Aufgabe von Künstlern, Designern, Architekten und Web-Aktivisten in dieser mediatisierten Öffentlichkeit ein Gespür für Einmaligkeit und Intimität herzustellen.
Hi, danke für die umfassende zusammenfassung.
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