Le HavreKaurismäki durch Zeit und Raum

Foto: Pandora Film, alle Rechte vorbehalten

Als ein Container mit einer Gruppe illegaler Einwanderer aus Afrika entdeckt wird, reagiert man im Hafen der französischen Stadt Le Havre mit professioneller, europäischer Schizophrenie: Die schwer bewaffnete Polizeitruppe repräsentiert das ultimative Misstrauen, während eine abgeklärte, uniformierte Rot-Kreuz-Einheit ihre institutionalisierte Hilfsbereitschaft praktiziert.

Um den Jungen Idrissa, dem die Flucht gelingt, und den gealterten Schuhputzer Marcel spinnt Aki Kaurismäki dann seine Geschichte über Hilfsbereitschaft und Menschlichkeit. Dabei konstruiert er eine genussvoll anachronistische Filmwelt in der Stadt am Ärmelkanal.

Der Container, das Vehikel der Flucht, ist das Symbol aktueller, globalisierter Logistik, ebenso der Ausgangspunkt der Handlung: Ein Computerfehler, der den Container nach Le Havre statt nach London geführt hat. Auch das Grundthema, illegale Migration und die „Festung Europa“ sind brennend aktuell. Die Protagonisten und ihre Lebenswelt sind dagegen den 50er-Jahren entsprungen: Der Schuhputzer, der Kommissar im Trenchcoat, die Bar mit Jukebox, der winzige Gemüseladen – sie alle sind einfach und präzise gezeichnet.

Wenn Marcel dann mit Hilfe des Gemüsehändlers, der Bäckerin, seines Kollegen Chang (selbst ein alteingessener Sans-Papiers) und des Alt-Rockers Little Bob dem Jungen die Weiterfahrt nach London organisiert, nähert sich der Film eher einem unterhaltsamen Coup-der-kleinen-Leute-Genre als der brutal melancholischen Seite von Kaurismäki.

Ebenso wie einer koheränten Filmzeit verweigert sich Kaurismäki einem zugespitzten Drama. Seine Bilder sind sorgfältig komponiert und ausgeleuchtet, der Film ganz klassisch auf 35mm gedreht und geschnitten(!). Das hat mehr Kraft als jene dokumentarisch-authentischen Bilder von der Räumung des französischen Flüchtlingscamps Le Jungle, die einmal über den Kneipenfernseher flimmern.

„Le Havre“ ist ein Statement wider die Abstraktion. Grenzen und Flucht sind seit Ende des Kalten Krieges als Thema nicht mehr mitten in Europa präsent sondern an die Grenzen der „Festung Europa“ verschoben. Bei uns kommen die Dramen nur noch als abstraktes Politikum, als mediale Bilder an, in Kampagnen von Hilfsorganisationen einerseits und von konservativen Brandstiftern andererseits eingebettet. Es regieren Angst und Vorurteile. Kaurismäki führt dieses Gesamtbild konzentriert wieder auf konkrete Individuen zurück. Und da wird Menschlichkeit bei ihm plötzlich wieder selbstverständlich: Natürlich hilft man einem verlorenen Kind, auch wenn das Geld knapp ist und die Polizei und Gesetz dagegen sind.

Der Film läuft seit dem 8.9.2011 in den Kinos. In Berlin zeigen Sputnik, Eiszeit und FSK gemeinsam eine komplette Kaurismäki-Werkschau.

Filmwebsite, Trailer auf YouTube

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