Wenn zwischen 300 und 900 Menschen als Pulk durch eine Stadt ziehen, muss es eine Demo sein. Oder ein Fußballspiel. Da aber keinerlei Polizeikräfte die Seiten flankieren, keine Fahnen geschwungen und Parolen skandiert werden, könnte es sich auch um einen überraschend erfolgreichen Flashmob handeln. Die staunenden Gesichter, die am 17.03.2012 aus den Fenstern solch einem Zug nachblickten, konnten sich wohl keinen Reim auf die Aktion machen. Wer hingegen auf der Straße den Zug kreuzte, konnte sich aufklären lassen und sich dem Treiben anschließen. Schließlich war dies eine Aktion der Hamburger Künstlergruppe „A Wall Is A Screen“ im Rahmen der 18. Regensburger Kurzfilmwoche. Der Grund, sich dem Pulk anzuschließen: An ausgesuchten Fassaden im öffentlichen Raum wurden Filme projiziert, die sich mit dem Umfeld in Bezug setzen lassen.
Zunächst allerdings wurden die Besucher mit zwei Kurzfilmen darauf eingestimmt, die Stadt nicht mit gewohnten Augen wahrzunehmen, sondern sich auf das Neue einzulassen. Corners (Derek Roberts, 2008) zeigt einige Möglichkeiten auf, wie urbane Architektur auch zu erleben sein könnte. In halsbrecherischem Tempo springt der Darsteller über Mülltonnen und Trennwände, schwingt sich über Geländer und lässt seinen Weg von Wandvorsprüngen vorschreiben.
Dass als Leinwand gerade die Fassade eines Kaufhauses am Regensburger Neupfarrplatz herhielt, kam nicht von ungefähr: Aus dem zierlichen Ensemble mittelalterlicher Häuser sticht der große und wuchtige Betonbau aus den 1970ern besonders hervor. Dass sich zudem der Bau, der Elemente des Doms aufnimmt und sich so in das Altstadtensemble zu integrieren versucht, mit der Fassade der ehemaligen Feuerwache schmückt, lässt sich zudem auf die Compositingtechnik des zweiten Films spiegeln. Die Mockumentary The Centrifuge Brain Project (Till Nowak, 2011, auch gezeigt im Deutschen Wettbewerb des Festivals) zeigt den Vergnügungspark als Versuchslabor. Die perfekte Illusion der Karusselle und Riesenräder, die sich der Schwerkraft und Logik zu widersetzen scheinen, gelingt im Übergang zwischen realer Aufnahme und digital erzeugten Elementen.
Der Film, letztendlich auch mit dem diesjärigen Publikumspreis ausgezeichnet, lockte auch viel Laufpublikum und so zogen wesentlich mehr Interessierte in freudiger Erwartung zum nächsten Spielort mit. Zwischen Fenstern, die den Wohnraum verbergen, gewährten die Kuratoren einen besonders überraschenden Blick hinter die Wand. Die Highkey-Ästhetik der Bilder von A Alma Do Negócio – Die Seele des Geschäfts (José Roberto Torero, 1996) ist der Werbewelt entnommen. Dass jedoch den Zuschauern das Lachen zunehmend im Halse stecken blieb, lag an der blutigen Auseinandersetzung, die sich im Film aus einer gemütlich-harmonischen Frühstückssituation entspinnt. Stets umhüllt mit der Leichtigkeit des überzuckerten Dialogs zwischen ihr und ihm präsentieren sie sich gegenseitig ihre bevorzugten Produkte der Verstümmelung. Dass sich unterhalb des Filmbildes ein korrelierendes Schaufenster eines Einrichtungshauses der gehobenen Klasse befand, aus dem die im Film benutzten Werkzeuge hätten stammen können, ging wohl bei vielen Zuschauern unter.
Dass die Vorliebe für ein Essen nach altem Rezept keinerlei Worte bedarf, zeigt der in einem Stehimbiss spielende Film Szalontüdo (Szirmai Márton, 2006), der jedoch nicht an der Wand einer Dönerbude am Alten Kornmarkt gezeigt werden konnte. Der Besucherandrang übertraf die Prognosen der Veranstalter von 200 Personen um ein Vielfaches und so musste kurzerhand ein Restaurant nebenan herhalten.
Während die Menge von einer Stadtführerin durch die Gassen am Domgarten und an den Büroräumen des Bistums vorbei geführt wurde, bauten die Helfer die Projektionstechnik im Hof des Hotels Bischofshof wieder auf. Die Kulisse des Domschatzmuseums und der mächtigen, in den Nachthimmel ragenden Domtürmen dürften wohl eine äußerst spannende wie seltene Leinwand für Der Da-Vinci-Timecode (Gil Alkabetz, 2009) dargeboten haben. Der Film fährt in rasant aneinander geschnittenen Standbildern aus der Detailgröße heraus, bis das bekannteste Bild Leonardo da Vincis, das Abendmahl, im Ganzen zu bestaunen ist.
Natürlich darf bei einer Stadtführung das Rathaus nicht fehlen, in dessen Räumlichkeiten knappe 200 Jahre lang der Immerwährende Reichstag Entscheidungen im Namen des Kaisers traf. Ob diese Entscheidungen wohl ähnliche Auswirkungen hatten, wie die Wahl zwischen Braunbär, Löwe oder Pony? Der humorvolle, wortgewaltige Schweizer Film Der Conny ihr Pony (Robert Pohle, Martin Hentze) wirkt kindlich naiv und zeigt doch den Balanceakt, den nicht nur kommunale Politik eingehen muss. Ob die Hamburger Künstlergruppe um die seit Jahrzehnten andauernde Diskussionen zu Stadthallenbau und zusätzlichen Donaubrücken weiß? Conny hat sich für das Pony entschieden und muss nun mit der Konsequenz leben, aufgrund der Breite des Ponys und der Breite der Türe nicht den millionenteuren Gelenkbus Nr. 3 benutzen zu können – egal, wie sie das Tier zu falten und drehen versucht.
Ähnlich voll wie der Bus im Film war auch der zentral gelegene Haidplatz, die letzte Station der Stadtführung. Wo früher Ritterturniere oder physikalische Experimente stattfanden und heute regelmäßig Konzerte veranstaltet werden, also schon immer Spektakel und Unterhaltung für einen Massenauflauf sorgen, nimmt sich auch „A Wall Is A Screen“ nicht aus. Der Experimentalfilm Dubus (Alexei Dmitriev, 2005) basiert auf Bildzitaten aus Filmklassikern, die in ihrer Abspielgeschwindigkeit der Dynamik des taktgebenden Elektrojazz von Zelany Rashoho angepasst wurden. Mit kräftigem Applaus bedankten sich die Zuschauer bei den Veranstaltern, die wiederum mit dem gefakten Schlagerhit Kanu Joe (Martin Chramosta, 2010) beschwingt in die Nacht schickten.
Dass die Regensburger Kurzfilmwoche für das städtische Image wertvoll ist, wird von allen Seiten behauptet. Schließlich locken die Wettbewerbe überregionale Besucher an, die sich ansonsten wohl kaum in die Donaustadt verirren würden. Und doch bleiben Besucher leicht im Festivalzyklus hängen, eilen vom Hotel zu den Spielstätten und irgendwann wieder zurück. Die Stadt bleibt als Skyline, als Schemen zurück. Andererseits trifft man auch auf Bewohner, die sich vom Festival nicht angesprochen fühlen. Mit diesem Sonderprogramm hat sich die Regensburger Kurzfilmwoche besonderes charmant in der Stadt präsentiert und zudem Bewohnern wie Touristen eine besondere Stadtführung zukommen lassen.
Das ist ja mal eine ganz tolle Aktion! Gibt es schon Informationen, ob so etwas ähnliches irgendwann, auch ausserhalb der Kurzfilmwochen, mal wieder in Planung ist?
Ja die Aktion war tatsächlich sehr eindrucksvoll. Auf der Homepage findest Du die aktuellsten Termine: http://www.awallisascreen.com/.