Eine typische amerikanische Vorstadtsiedlung. Nachts. Ein Mädchen steht auf der Straße. Barfuß, ihre Schuhe und ein undefinierbares Bündel Stoff trägt sie in der Hand. Aus dem Haus am Straßenrand dringt Licht, doch wirkt es nicht etwa einladend, sondern durch seine unnatürliche Helligkeit herausfordernd, fast bedrohlich. Das Mädchen wendet seinen Blick ins Leere. Schämt sie sich, weil sie viel später als mit ihren Eltern vereinbart nach Hause kommt? Das Taxi hält noch ein paar Meter entfernt, die Tür ist geöffnet. Auf der Rückbank sitzt ein Junge. Wird er aussteigen? Sie zur Tür begleiten?
Die Bilder in Gregory Crewdsons Serie „Beneath the Roses (2003-2008) werfen unauflösbare Fragen auf, indem sie einen Moment in einer Narration isolieren und in einen Schwebezustand versetzen, den Betrachter zum Voyeur machen und ihm den vollständigen Einblick zugleich entziehen. Unter dem Titel „In a Lonely Place“ widmet das c/o Berlin dem US-amerikanischen Fotografen noch bis zum 4. September eine große Ausstellung. Die „lonely places“ sind neben den schummerigen Straßen und Wohnzimmern der amerikanischen Vorstädte auch die Cinnecitta in Rom, die Crewdson als Kulisse für die Serie „Sanctuary“ (2009) diente, sowie die Wälder hinter dem Haus seiner Eltern in Massachusetts, in denen der 48-Jährige 1996 mit seiner Kamera auf die Jagd nach „Fireflies“ gegangen ist.
Licht und Raum sind die Konstanten, die alle drei Serien miteinander verbinden. In „Fireflies“ werden sie abstrahiert und gegeneinander ausgespielt, mal rücken einzelne Gräser in den Vordergrund und öffnen sich zu einer Bühne für die tanzenden Glühwürmchen, mal wird der Raum zum endlosen, schwarzen Loch, das die winzigen Lichtpunkte zu verschlucken droht.
Für seine jüngste Werkreihe „Sanctuary“ durchstreifte Crewdson die „Cinecitta“, die Filmstadt vor den Toren Roms, in der Regisseure wie Frederico Fellini und Roberto Rossellini inszenierten. Statt des Glanzes vergangener Filmproduktionen fand er dabei eine menschenleere Geisterkulisse vor. Die Gebäude verfallen immer mehr zur Ruine, zwischen den Steinen wuchert meterhohes Gras. Trotzdem gelingt es Crewdson durch geschickten Lichteinsatz der Leere ein Stück Glanz zurückzugeben. Wenn Sonnenstrahlen in klassischer Zentralperspektive durch einen schmalen Gang fallen und im Hintergrund einen Torbogen erhellen, so zeugt das von einer unheimlichen Präsenz, die sich zwar der Narration verweigert, aber nicht unberührt lässt. War da was?
Im Zentrum der Ausstellung steht aber „Beneath the Roses“. Wie auch David Lynch in seinen Filmen setzt sich Crewdson mit der dunklen Seite des amerikanischen Traums aus, mit der „obszönen Unterseite“, wie Slavoj Žižek er formuliert. Anders als bei Lynch, bei dem sich diese obszöne Unterseite ganz real in konkreten Gegenständen wie etwa einem abgeschnittenen Ohr in „Blue Velvet“ manifestiert, bleibt bei Crewdson der Schrecken auf die Imagination des Betrachters angewiesen.
Oft sind die Szenarien in den diffusen Nebel der Morgendämmerung getaucht. Es ist ein Nebel, der sich nicht ganz entscheiden kann, ob er eine intakte Idylle sanft verhüllt oder Komplize des Grauens ist, das sich seinen Deckmantel zu Nutze macht. Die Personen in dieser Morgendämmerung wirken einsam und unbestimmt. Sind sie die letzten, die noch von der Nacht übrig sind oder die ersten, die der heranbrechende Tag aus dem Schlaf geworfen hat?
Doch auch die Gemeinschaft verspricht dem Subjekt keine Erlösung. Auf einem Bild sieht man eine Mutter und ihren Sohn am gedeckten Tisch sitzen, ihre Blicke richten sich aneinander vorbei auf den Boden. Ein anderes Bild zeigt eine schmutzige Matratze im Wald, eine nackte Frau kauert darauf in postkoitaler Traurigkeit, ein Mann sitzt einige Meter weiter auf dem Boden, von ihr abgewandt. Der Andere ist keine Rettung, er verstärkt sogar noch die Einsamkeit.
Neben den radikal inszenierten Fotografien Cindy Shermans und Jeff Walls dienen Crewdson auch Maler wie Edward Hopper und sogar Caspar David Friedrich als Vorbilder. Doch während bei Friedrich die einsame Figur in der Natur zum Stellvertreter des Betrachters wird, ist der Betrachter bei Crewdson eher ein ungebetener Gast und Voyeur.
Ihre oft kinematographische Qualität verdanken Crewdsons Bilder dabei ihrer Entstehungsweise: Die Aufnahmen werden zuvor minutiös geskriptet, der Setaufbau würde viele Filmemacher neidisch machen. Crewdson stellt diese Bedingungen ganz offen zur Schau, auf einigen Aufnahmen ragen Kamerakräne und Scheinwerfer ins Bild. Trotz ihrer vordergründigen Überdeterminiertheit bewahren Crewdsons Bilder aber immer eine Unmittelbarkeit, ihre Anziehungskraft erwecken sie nicht aufgrund ihrer Fülle, sondern aus Andeutungen und Auslassungen und vermitteln so eine Erkenntnis, die nicht nur für die Fotografie gilt: Konstitutiv für jede Narration ist der Mangel.