Etwas geht schief im idyllischen Land der europäischen Game Studies. Zwar ist die wissenschaftliche Beschäftigung mit Computerspielen nun an Hochschulen anerkannt und teilweise ausdrücklich gewünscht, aber übersichtliche, vollständige und kostenfreie Archive, die für die interdisziplinäre Erforschung des jungen Kulturgutes Sinn ergeben, sind bisher weder umgesetzt geschweige denn bildungspolitisch vorgesehen. Dennoch arbeitet eine Initiative an der Uni Potsdam reflektiert an dem materiellen Fundament einer umfassenden Theorie digitaler Spiele. In der „Computerspielsammlung“, die dort entsteht, erfassen Studierende und Dozenten Games , die seit den 1960ern erschienen sind. Ziele: Der direkte Zugriff für Akademiker, und: wissenschaftliche Kategorien jenseits von magazin-tauglichen Genres. Das bedeutet Spiel und Spaß – aber auch harte Arbeit.
Computerspiele sind über die letzten 40 Jahre zu einem bedeutenden und einflussreichen Kulturphänomen der Gegenwart geworden, für das sich auch Akademiker zunehmend interessieren. Magister, Bachelor, Doktor oder Professor – egal welcher Grad, alle nehmen sie den Controller in die Hand, um der elektronischen Spielerei auf die Schliche zu kommen, die unseren Alltag so beunruhigend stark prägt. Das macht nicht nur Spaß, sondern generiert darüber hinaus eine Menge spannender Einsichten auch für andere Wissenschaftsrichtungen. Dennoch: ein unbedingt notwendiges widerspruchsfreies Wissen über digitale Spiele ist kaum in Sicht. Seitdem Espen Aarseth im Jahr 2000 die (Computer) Game Studies ausrief, ist zwar einiges über das Computerspiel gesagt worden, trotzdem bleibt es bis heute ein Mysterium, das jede Disziplin an die Grenzen ihrer Konzepte treibt.
Eine Sache ist allerdings unmittelbar klar – so der Konsens der Akademiker: Spiele können nur dann erforscht werden, wenn sie gespielt werden; so wie Literatur erst gelesen werden muss, um analysiert werden zu können. Eigentlich selbstverständlich. Doch so banal wie diese Voraussetzung erscheint, so unzugänglich ist den Forschern aktuell die gesamte Bandbreite der Computerspielangebote. Denn keine Uni hat genügend Etat, um ihre Bibliothekare in das nächste Elektronikgeschäft zu bitten oder auf 30 Jahre alte Konsolen bei Internetversteigerungen anzusetzen. Der interessierte Akademiker muss tief in die eigene Tasche greifen, um an seine Untersuchungsexemplare zu gelangen. Dazu muss er in der Regel auf ältere Spiele verzichten, die nicht mehr verfügbar sind; und er muss sich auf alltagsbezogene, umgangssprachliche Unterteilungen verlassen, die keine genaue Ordnung von Spielen ermöglichen. Ein Zustand also, der den Grundsätzen von Wissenschaftlichkeit und dem Forschen entgegensteht.
Hier tritt nun die Computerspielsammlung der Uni Potsdam (kurz CGC: Computer Games Collection) auf den Plan, die deutschlandweit einzigartig ist – vielleicht sogar europaweit. Das Projekt begann vor fünf Jahren als Arbeitsgruppe einer Handvoll Studierender der Europäischen Medienwissenschaft. Dort wurde die Idee der Computerspielsammlung geboren und seither konsequent weitergeführt. Dem Initiator und Spielefan Michael Liebe war es ein Anliegen, dem unbestreitbar notwendigen akademischen Interesse einen direkten Zugriff zu verschaffen. Das bedeutet für ihn natürlich zunächst einmal das umfassende Sammeln von digitalen Spielen, im Idealfall alle aus jeder Zeit. Noch wichtiger für ihn aber: die Ordnung. Und in der Tat, das Besondere an der CGC stellt nicht die reine Ansammlung dar, sondern eigentlich die Systematisierung von Computerspielen. Magazin-taugliche Genreklassifizierungen à la Action-Adventure, Ego-Shooter oder Round-based Strategy reichen schlichtweg für eine wissenschaftliche Untersuchung nicht aus. Denn sie sind unklar und willkürlich. Ziel der CGC soll dagegen sein, ein möglichst präzises, facettenreiches Kategoriesystem zu entwickeln, das Spielmechanik, Raum und Zeit genauso berücksichtigt wie Perspektive, Erzählung oder Sound.
„Es kann nicht sein, dass Akademiker über Gegenstände schreiben und reflektieren, die sie nie selbst aktiv erfahren haben. Den deutschen Game Studies einen umfassenden, gut sortierten Bestand als Forschungsgrundlage zu bieten, das ist unser langfristiges Ziel“, so Michael Liebe.
Möchte man es auf den Punkt bringen, so ist das Projekt also einerseits historisch orientiert, andererseits wissenschaftlich bedingt, weil es zum einen als öffentliches Gedächtnis für den kurzlebigen Computerspielmarkt fungiert, zum anderen versucht eine widerspruchsfreie Einteilung zu denken. Und so mag es kaum verwundern, wenn die Computerspielsammlung mit dem Computerspielmuseum Berlin kooperiert und in das Zentrum für Computerspielforschung der Universität Potsdam (kurz DIGAREC: Digital Games Research Center) integriert ist. Die meiste Tatkraft kommt aber aus den Hörsälen der Universität Potsdam selbst. Denn die Sammlung wird wie ein Seminar geführt. Zweiwöchentlich finden während der Vorlesungszeit vierstündige Sitzungen statt, in denen Studierende direkt am und für den Bestand arbeiten.
Dabei kann und muss natürlich gespielt werden. Allerdings hat das Gamers-Paradise einen Haken. Die Sammlung verlangt den Teilnehmern auch einiges ab. Monoton ist beispielsweise die Verwaltung der Datenbank. Stundenlang werden Zahlen und Bezeichnungen eingetippt und Etiketten auf die Spielhüllen aufgeklebt. Das ist Handarbeit und fordert den Kopf nur bedingt. Die Tester können kein Spiel auskosten, denn sie müssen zügig wechseln, immer wieder neue Spielregeln lernen und die Kategorien im Blick haben. Und da wären noch ein paar grundsätzliche Schwierigkeiten, die ohne enorme Denkarbeit und viel Eigeninitiative nicht gelöst werden können. Ein Problemfeld: die Datenbank. Obwohl sie recht umfassend geführt wird, ist sie bisher nicht öffentlich einsehbar. Eine Verknüpfung mit dem Bibliothekskatalog der Uni oder einer leistungsfähige Website ist gerade erst in Arbeit. Gleichermaßen unangenehm: Es werden schneller Produkte veröffentlicht als kategorisiert werden können. Wie kann die Einordnung effizienter funktionieren? Soll man in Meilensteinen denken? Noch drängender für die Zukunft der Sammlung ist die Frage, wie Spiele archiviert werden können, die nur als Download erhältlich sind? Und was ist mit Online-Spielen, die nur mit Server funktionieren und immer weiterentwickelt werden?
Das alles bereitet Michael Liebe und seinen fleißigen Helfern Kopfschmerzen, aber fordert auch heraus. Es ist ein Abenteuer, bei dem es sich lohnt daran teilzunehmen, intellektuell wie sozial. Und überhaupt: Wer kann schon von sich behaupten, einer der Pioniere der Computerspielforschung zu sein? Einem Vorhaben, das wohl das bedeutendste Medium des 21. Jahrhunderts untersucht, von dem wir nur ahnen und träumen können, was es für unsere Lebensweise bringt. Game Over and Out.
Eine ausführliche Version des Artikels erschien bereits im Mai im Blog des Autors.